Mosche Feldenkrais, das Lernen ist das Wichtigste, was wir haben
"Man ging nach Außen in alle Richtungen, statt in sich zu gehen, wo jedes Rätsel zu lösen ist."
SCHOPENHAUER
Organismisches Lernen
Organismisches Lernen liegt in der Natur des zentralen Nervensystems. Hauptsächlich in der Gehirnrinde finden effektives Lernen und Bewusstwerdung statt. Das Gehirn braucht vom Körper gute
Bedingungen, um effizient lernen zu können. Zu Lernen ist fürs menschliche Gehirn und die menschliche Psyche lebensnotwendig und von der Geburt bis zum Tod ein nie endender Prozess. Es gibt bei
der Geburt wenig Vorgefertigtes und dafür ein ungeheures Lernpotential, das für ein paar Leben ausreichen würde.
Der Mensch ist nach Feldenkrais optimal zu lebenslangem Lernen veranlagt.
Für Feldenkrais ist die Bewusstheit in der Bewegung wichtig. Erst wenn ich mir bewusst bin, spüre und erlebe, was ich tue, habe ich mehr Handlungsfreiheit im Umgang mit mir und dadurch mit der Umwelt. "Erst wenn du weißt, was du tust, kannst du tun, was du willst."
Die Feldenkraismethode ist ressourcenorientiert, nicht defizitorientiert, d.h. hinter jeder Schwierigkeit steckt bei bewusster Wahrnehmung ein Wachstumspotential, das im Idealfall die
anfänglichen Defizite nicht nur ausgleicht, sondern den Organismus hinterher zu mehr befähigt als vor dem Auftreten der Schwierigkeit.
80% des Rückenleidens sind nach Feldenkrais beispielsweise eine Störung der Funktion, nicht der Struktur, und eine gestörte Funktion kann nicht nur erneuert, sondern sogar verbessert werden. Eine
zerbrochene Struktur hingegen kann nicht erneuert werden, sondern muss operiert werden. In der traditionellen Medizin geht man leider meistens von einer zerbrochenen Struktur aus, was äußere
Eingriffe zur Folge hat. Der Patient sollte aufschreien: "Bitte, verstehen sie mich nicht so schnell!"
Alle gesellschaftlichen, kulturell bedingten und persönlichen Disharmonien, wie z.B. Stress und Frust werden auf den Körper übertragen und belasten das gesamte Nervensystem.
Wir versuchen oft, durch angelernte Verhaltensweisen eigene Disharmonien zu verbergen, aber unser Körper ist erstaunlich aufrichtig und projiziert oft genau das, was wir zu verbergen suchen.
Eine Zeit lang lebte Feldenkrais neben einer Schweineschlächterei und er musste mit ansehen, wie Schweine täglich geschlachtet wurden. Seither trachtete er danach, alles zu unternehmen, damit ihm
in der Gesellschaft nicht etwas Ähnliches geschehe.
Die unorthodoxe und unberechenbare Arbeitsweise von Feldenkrais bestand hauptsächlich darin, dass er alle Einfälle gleich durch praktisches Ausprobieren und Experimentieren in die Tat umsetzte.
Beispielweise forderte er mitten in theoretischen Diskussionen mit Physikern diese auf, ihre Krawatten und Jacken auszuziehen, sich auf den Boden zu legen und das soeben Diskutierte einfach
auszuprobieren. Das Wichtigste war ihm, nichts unreflektiert hinzunehmen, sondern alles zu hinterfragen, aus Fehlern zu lernen, damit jeder seinen eigene Art finde, zu lernen.
Je leichter man sich auf den Boden sinken lassen kann, umso leichter richtet der Körper sich wieder auf. Es sind immer viele Kräfte, die zusammenwirken. Jeder Körper entwickelt in Beziehung mit der Außenwelt seine eigene Intelligenz und Selbstorganisation. Wer sich in ideale Verhaltensmuster zwingen will, arbeitet gegen das Leben, das immer in Veränderung ist.
Feldenkrais fand es nicht notwendig, dass jeder Mensch seine Methode erlernen müsse, aber er sagte, es müsse doch möglich sein, dass jeder zumindest etwas Eigenes in seinem Leben finde.
Mit zunehmendem Alter wurde Feldenkrais immer einfacher und war immer mehr davon überzeugt, dass man Menschen nur helfen könne, indem man ihnen ermögliche, ihr Eigenes zu finden.
Wenn wir den Körper frei lassen würden, würde er sich auf ideale Weise selbst organisieren. "Korrigiere weniger und lass mehr geschehen", war eine seiner Empfehlungen im Unterricht. Einmal kam der damals schon recht alte Kybernetiker Heinz von Foerster in eine seiner Stunden, legte sich auf den Boden und probierte. Feldenkrais schaute eine Zeit lang zu und schrie zu seiner damals in Ausbildung befindenden Gruppe: "Aufhören, hört mal alle auf mit eurer Arbeit und schaut diesem alten Mann zu, der hat alles verstanden." Foerster war von Feldenkraisvorwissen unbelastet und probierte einfach, die Anregungen auf eigene Weise zu nutzen.
In jeder Entwicklungsabfolge wird das, was auf einer bestimmten Stufe ein Ganzes ist, auf der nächsten Stufe Teil eines größeren Ganzen.
Zwei Lernmethoden von Feldenkrais
Die Feldenkrais- Methode, wie auch der personzentrierte Ansatz von Rogers, ist eine vorwärts orientierte Sichtweise. Es geht um die Fähigkeit, das eigene Bewusstsein in jede gewünschte Richtung
zu lenken, auf die inneren und auf die äußeren Welten zu achten. Eine Orientierung in eine neue Richtung erfordert eine Reorganisierung und Reaktivierung aller vieler Komponenten des gesamten
Systems.
Ganz gleich, vor wie langer Zeit eine Funktion zuerst auftauchte, solange sie überlebt, wird sie immer neu und jung sein, das heißt, sie ist immer ein Prozess, immer in Bewegung und in
Veränderung begriffen.
Für seinen Unterricht hat Feldenkrais hauptsächlich zwei Methoden entwickelt, nämlich die Gruppenarbeit: "Bewusstheit durch Bewegung" und die Einzelarbeit "Funktionale Integration"
Bewusstheit durch Bewegung
Bei "Bewusstheit durch Bewegung" werden über verbale Hinweise vom Lehrer Bewegungen erforscht und in ungewöhnlicher Weise zueinander koordiniert, der Bewegungsvorgang wird dabei beobachtet, damit
auftretende Bewegungsempfindungen im Zusammenhang wahrgenommen werden können. So entwickeln die Teilnehmenden Bewusstheit über die eigene Selbstorganisation und die oft bisher vernachlässigten
Möglichkeiten.
Das Lernen soll in einer absolut freien Atmosphäre geschehen, es ist immer der Schüler, der den Rhythmus, das Lernvolumen und überhaupt über das Ausmaß des Mitmachens entscheidet.
Einmal hatte eine Assistentin von Feldenkrais in ihrer Gruppenstunde in Tel Aviv eine Frau, die regelmäßig während der Stunden schlief. Nach den Ferien war es diese Frau, die sich als erste nach
der Fortführung der Gruppe erkundigte. Später erzählte sie ihrer Lehrerin, dass die Feldenkraisgruppe ihr das Leben gerettet hatte, weil sie nur dort schlafen konnte: sie hatte durch einen
Anschlag ihre Familie verloren.
Auch Rogers meinte, dass, wenn es in der Gesprächsführung einen Experten gäbe, dies nur der Klient sein könne, denn der wisse am besten, wie es ist, er zu sein.
Bei Feldenkrais wird meistens ein Rahmen, eine Form vorgegeben, und der Schüler entscheidet, was er damit macht. Es kann durchaus vorkommen, dass ein Teilnehmer in einer solchen Gruppe nur das
versteht, was er verstehen kann, nicht das, was der Lehrer sagen will, und da ist es nach Feldenkrais wichtig, den Schüler nicht zurechtzuweisen oder gar aufzufordern, es "richtig" zu tun, oder
"wie die anderen". Feldenkrais hat sein Verhalten in einer solchen Situation in einem Interview folgendermaßen erläutert:
"Ich habe etwas gesagt, eine Anweisung gegeben, und die Mehrheit hat sie auf eine bestimmte Weise befolgt. Aber da ist einer, der hat die gleichen Worte ganz anders gedeutet. Nun ist es möglich,
dass er ein Idiot ist und das, was ich gesagt habe, gar nicht verstehen kann. Dann wäre alles in Ordnung. Ich aber glaube, dass er kein Idiot ist, sondern dass er so weit davon entfernt ist, so
funktionieren zu können, wie ich es mit meiner Anweisung vorgeschlagen habe, dass er sich gar nicht vorstellen kann, dass ich, was ich gesagt, auch wirklich gemeint habe. Nun haben aber die
anderen die Anweisung sinngemäß ausgeführt, und so sagte ich zu ihnen: "Seht einmal, wie es dieser macht. Vielleicht hat er recht, vielleicht sollte man es so machen. Könnt ihr es ihm
nachmachen?" Das konnten sie alle. "Könnt ihr es wieder so machen wie vorher?" Auch das konnten sie alle; er aber konnte es nur auf die eine, seine Weise und nicht wie alle andern. Die anderen
also konnten zwischen zwei Handlungen frei wählen, während er zwanghaft handelte und außerstande war, sich zu ändern. Er wusste nicht, was er tat, und er konnte nicht tun, was er wollte. Diese
Technik: die andern ihm und ihn den andern zuschauen zu lassen, machte es ihm leichter, sich selbst zu betrachten. Ich konnte ihm nun sagen: "Sie haben es auf Ihre Weise gemacht. Vielleicht haben
Sie recht. Aber die andern hier können es so tun wie Sie und sie können es auch anders tun; Sie aber haben keine Wahl, Sie sind ein Computer, während die andern Menschen sind. Die andern hier
haben ihren freien Willen, sie können wählen; Sie können das nicht. Sehen Sie jetzt einmal den anderen zu. Sehen Sie was?" Indem er zusah, wie die andern ihn nachahmten, merkte er plötzlich, dass
er nicht wusste, was er tat. Kaum hatte er das begriffen, machte er es wie die andern. Zehn Sekunden hatte er zum Lernen gebraucht. Er hatte seine Freiheit der Wahl und seine menschliche Würde
wiedererlangt." (Feldenkrais 1987a, S. 173f.)
Die Funktionale Integration
Der Einzelunterricht "Funktionale Integration" findet überwiegend als nonverbaler Dialog zwischen Lehrer und Schüler statt, wo der Lehrer den Schüler berührt. Die Berührung geschieht ein bisschen wie ein Partnertanz. Die Aufmerksamkeit beim Lehrer und Schüler ist ganz auf das innere Bewegungsempfinden gerichtet. Neue Bewegungserfahrungen können so aufgenommen und integriert werden. Das vorhandene Bewegungsrepertoire wird erweitert, unnötige Schmerzen können sich auflösen oder vermindern, damit sich eigene Handlungsfähigkeit wieder in einem erweiterten Selbstbild weiterentwickeln kann.
"Funktionale Integration wendet sich an die ältesten Teile unseres sensoriellen Systems, die auf Berührung reagieren: auf die Empfindungen von Zug und Druck, auf die Wärme der Hand und ihre Streichelbewegung. Die im wörtlichen Sinn be-handelte Person spürt zunehmend die sich verringernde Muskelspannung, das Tieferwerden des Atems und seine Regelmäßigkeit, Wohlbehagen im Unterleib, den besseren Kreislauf in der sich weitenden Haut, und sie wird von diesem Empfinden eingenommen. Sie spürt ihre primitivsten, d.h. entwicklungsgeschichtlich ursprünglichen, vom Bewusstsein vergessenen Verhaltensschemata und erinnert sich des Wohlgefühls eines heranwachsenden kleinen Kindes" (Feldenkrais 1987a, S. 179)