Der Clown als Lebensretter

"Immer versuchen. Immer gescheitert.
Einerlei.
Wieder versuchen. Wieder gescheitert.
Besser gescheitert."

GEORGE TABORE ERINNERT SICH AN SAMUEL BECKETT

 

Der Clown hat mich ein Leben lang begleitet. Mit 27 Jahren arbeitete ich beim Zirkus "Tempodom" in Berlin als Zirkusclown - nicht lange, weil das Geld ausging. Ich stand wieder auf der Strasse und rettete mich eine Zeit lang mit dem Sklavenhändler.


Solche und ähnliche Geschichten des Scheiterns gab es viele in meinem Leben. Eine der letzten nannte sich "Dokumentation eines Misserfolgs".

 

Im Zirkus war mir gesagt worden, dass der Clown ein abgestürzter Artist ist. Als Artist war er perfekt - die Leute staunten über seine Akrobatik und Kunst, als er übers hoch gespannte Seil balancierte. Als Clown legt er das Seil auf den Boden und balanciert mit hinkenden Beinen. Die Leute staunen nicht, sondern sie lachen. Wenn er nicht über seinen Absturz lachen kann, muss er die Manege verlassen, weil er dann weder imstande ist, das Publikum zum Staunen, noch zum Lachen zu bringen.

 

Charly Rivels, der bekannte Zirkusclown sagte einmal, jeder Mensch sei ein Clown, aber nur die wenigsten hätten den Mut, ihn zu zeigen.


Wenn sich der Clown nicht zeigt, dann muss er in den Stall und für die Tiere arbeiten. Das ist für ihn furchtbar. Er wird depressiv, einsam und traurig und überlegt, wie er wieder in die Manege kann. Wenn er das Lachen hört, wird er wieder gesund.
Erst wenn er seinen Absturz in seiner ganzen Tragweite sieht, erkennt und annimmt, kann er daraus etwas Lustiges machen. Wenn er das nicht schafft, ist er verloren. Seine ganze Existenz hängt davon ab, denn er kann niemals den Zirkus verlassen, sonst muss er verhungern. Außerhalb vom Zirkus kann er ja nichts.


Samuel Beckett meinte, am Ende stehe nicht das Drama, sondern das große Lachen.

Feldenkrais forderte seine Schüler immer wieder auf, bewusst Fehler zu machen, denn über Fehler könne man erst verstehen, wie sich etwas entwickeln kann. Ein Kind, das nicht viele Male in alle Richtungen zu Boden fällt, wird nie das Gehen lernen. Daher ist für das Gehen das Fallen-lernen am wichtigsten. Der aufrechte Gang kann erst verstanden werden, wenn ich das Fallen verstanden habe.


Natürlich kann ich auch lernen, den Computer zu bedienen, ohne Fehler zu machen, indem ich Kurse besuche und mich genau an die Anweisungen des Lehrers und in den Handbüchern halte. Aber ohne Freude, zu probieren und Fehler zu machen, macht dann das fehlerfreie Computern auch keinen Spaß und da sogar der Computer überraschend oft völlig anders reagiert, als vorherzusehen wäre, kann ich all diesen unvorhersehbaren Fällen wenig Handwerk entgegensetzen.


Der Fehler bleibt selbstverständlich ein Fehler, auch, wenn man ihn zur kreativen Freiheit erklärt. Wenn ich mich weigere, den Fehler als solchen bewusst zu sehen, wird er immer lästiger.
Erst wenn der Clown seinen Absturz bewusst annimmt und versteht, kann er daraus eine Nummer machen.

 

Ich glaube, dass Fehler für jede Entwicklung auf jedem Gebiet unbedingt notwendig sind.
Nur, weil der Clown seine Fehler zeigt, können wir ihn lieben.

 

Oliver Kahn, 2002 weltweit als der beste Tormann anerkannt, machte einen großen Fehler, als er den Ball zwischen seinen Beinen ins Tor durchrutschen ließ, woraufhin Brasilien die Weltmeisterschaft gewann. Die Fachwelt und seine Fans verziehen ihm diesen Fehler zwar, aber 2006, bei der nächsten Weltmeisterschaft, wollte der Trainer der deutschen Mannschaft Sicherheit und setzte Kahn nur als Reservetormann ein. Kahn nahm dieses Angebot nach einiger Überlegungszeit und entgegen allen Erwartungen an.


Anstatt als weltbester Tormann die Fußballwelt zu verlassen, tritt er nun als Reservetormann an. Millionen von Frauenherzen jubeln ihm zu. Der Antiheld ist der eigentliche Held geworden.

Der Zirkus ohne Clown würde in der Perfektion erstarren. Wir müssten nur staunen und hätten nichts zum Lieben.

 

Bei meiner letzten Regiearbeit für die Clownschule "Clownszeit - Clownsbildung" in Düsseldorf war ein Clown dabei, der vergaß, seinen Hut aufzusetzen und ein anderer erinnerte sich, dass seine richtige Nase schon rot genug sei, und er zog die rote Plastiknase aus und warf sie weg. Sie landete unbeabsichtigt im Hut des ersten, der vergessen hatte, diesen Hut aufzusetzen. Als er nun die fremde, rote Nase in seinem Hut sah, war sein Spiel vor lauter Entsetzen gelähmt. Er konnte nicht mehr weiterspielen, mit der Begründung, dass nun, mit der fremden Nase, sein Hut verseucht sei und ohne Hut könne er nicht spielen. Er wollte den Hut nun dem zweiten Clown schenken und selbst aufhören, Clown zu sein.
Der zweite Clown aber hatte schon seinen eigenen Hut und wollte keinen fremden. Als ich dem ersten Clown sagte: "Nimm ein bisschen Abstand, leg den Hut eine Zeit lang in die frische Luft, geh eine Zigarette rauchen oder ein bisschen spazieren", tat er das auch. Nach Stunden kam er wieder zurück, immer noch überzeugt, diesen verseuchten Hut nie mehr benutzen zu können.


Ich fragte ihn, wie es wäre, wenn er einen Flohzirkus aus dem Hut herauszaubern würde. Das interessierte ihn nicht.
Als ich ihm sagte, in der Küche gäbe es ein ganz starkes Desinfektionsmittel, interessierte ihn das. Er desinfizierte seinen Hut sehr gründlich. Ich fragte ihn dann, ob er jetzt wieder spielen könne, und er fragte mich, was er denn spielen solle. Ich antwortete: "Das, was du am Besten kannst."


Plötzlich wusste er es: Er nahm den Hut, setzte ihn auf, sprang auf die Bühne und wollte Tanzmusik. Dann entwickelte er eine Nummer, die so lustig und so stark war, wie wir ihn noch nie gesehen hatten und wie er sich selbst auch noch nicht kannte. Seine alte Nummer, die er Monate lang geübt hatte, und in der es um seinen Putzzwang und der Angst vor Mikroben gegangen war, war vergessen, und nun hatte er eine ganz neue.


Er bedankte sich bei mir und sagte, jetzt hätte er das Wichtigste gelernt, nämlich, nicht kompliziert, sondern einfach zu denken. Er hatte einfach getan, was er am besten konnte, und "nicht immer", wie er sagte, "diese Scheißpsychologie mit diesen ganzen Scheißzwängen."

 

Eine Clownkollegin aus der gleichen Gruppe hatte auch eine sehr schöne, bis in jedes Detail über Monate ausgearbeitete Nummer vorbereitet. Als sie uns diese vorführte, fanden wir die Nummer zwar schön, aber wir fanden nichts zum Lachen dabei, daher war es für uns keine Clownnummer. Die Frau war bereit, alles zu ändern, und nach ein paar Tagen wurde eine Clownsnummer daraus. Alle waren wir zufrieden, nur meinte sie: "Die ursprüngliche Nummer werde ich nicht wegwerfen, sonder ich werde sie bei bestimmten Anlässen, wo es nicht um den Clown geht, vorführen."

 

Bei jeder Arbeit dieser Art, die ich mache, stelle ich mir nachher die Frage, was für mich Neues dabei war. In diesem Fall beschäftigte mich die Rückmeldung der Clowns. Einer meinte: "Wir staunten, wie du bei unseren ewigen Wiederholungen nie müde wurdest, sondern immer hellwach mit einem halben Schritt im Voraus dabei warst."
Das mit dem Hellwach in den Wiederholungen war mir klar: eine Wiederholung wird nur dann ermüdend, wenn ich den Perfektionsanspruch habe - die größte Falle des Clowns. Mich interessiert das mögliche Unvorhersehbare, auch wenn es nicht eintrifft.


Ich überlegte, was mit dem halben Schritt im Voraus gemeint war. Das hatte ich zum ersten Mal gehört. Wenn der Clown neben mir steht und ich einen halben Schritt mache, dann muss ein halber Schritt vorne, der andere halbe hinter ihm sein, sonst ist es ein ganzer Schritt vorne oder ein ganzer Schritt hinten.
Da sie noch dazusagten: "Gleichzeitig warst du nie direktiv", deutete ich den halben Schritt in meinem Verständnis zu Rogers, dass dieser halbe Schritt für die Bedingungen kämpft, während der halbe Schritt rückwärts bedeutet: Ich stehe hinter ihm und kann ihm nie die Arbeit abnehmen.

 

Mein Clown ist meistens in der Schwebe. Bewusst ist mir nur, dass ich nicht weiß, ob er komisch oder dramatisch wirkt. Ich beschäftige mich mit dem, was mir gerade in mir an Abstürzen begegnet und versuche, dafür Raum zu schaffen und mich so zu manipulieren, dass zumindest ich lachen kann. Oft geschieht das schon gleichzeitig, während ich es mache, ansonsten mit Verspätung - nie genau wissend, ob das eventuell beim Anderen auch so ist - dass mir jemand vielleicht mit Ernst zuschaut und dann, einen Tag später, darüber lachen muss. Ich bin ja auch kein Zirkusclown mehr.


Egal, was ich mache, ich versuche fast mit einer kleinen Leidenschaft, Fehler zuzulassen und sie zu fördern, wo ich sie spüre. Dahinter ist nicht die Freude, über den Fehler das Richtige zu finden, damit ich daraus lernen kann, sondern die Freude der Überraschung, was geschieht, wenn man den Fehler macht - die Fehlerfreude.
Manchmal spüre ich sogar eine Wut, wenn mit bestimmten Handlungen auch schon gleich die Wirkungen, die die Handlungen haben sollen, mitgegeben werden. Zum Beispiel: "Spiele dein Problem und du wirst das Problem nicht mehr haben", anstatt: "Spiel dein Problem und etwas wird schon passieren."


In meiner Arbeit mit Klienten ist meine schönste Herausforderung, wenn wir in Beziehung miteinander kommen und ich nicht weiß, wohin das geht.
So gesehen ist der Clown für mich ein Lebensretter, weil er sich von seinen Handlungen nicht Wirkungen, sondern Überraschungen erwartet.